„1930 waren in der Schweiz offiziell 36 000 Kinder fremdplatziert“

Historiker Marco Leuenberger arbeitet seit Jahren die Geschehnisse rund um die Verdingkinder in der Schweiz auf. Im Rahmen einer Nationalfondsstudie koordinierte er zusammen mit der Historikerin Loretta Seglias 280 Gespräche mit ehemaligen Verding- und Heimkindern. Aus dieser Forschungsarbeit der Universität Basel heraus entstand die Ausstellung „Verdingkinder reden“, die momentan im Historischen Museum in Basel gastiert.

Interview von Lukas Eggenberg

Welche Zustände herrschten in der Schweiz in der Zeit nach 1930?

Ernährung, Hygiene und Schulbildung waren im Vergleich zu heute katastrophal. Wir hatten grosse Armut. Zum Teil auch verstecke Armut. Die verarmten Familien haben sich bei den Gemeinden gar nicht gemeldet. Die offizielle Armutsquote lag in den 30er und 40er Jahren zwischen fünf bis zehn Prozent. Das änderte sich erst nach 1950.

 
Marco Leuenberger, Historiker
 

Weshalb wurden Kinder verdingt?

Marco Leuenberger, Historiker
 

Sobald in der Familie etwas passiert ist, beispielsweise Vater oder Mutter einen Unfall hatten, konnten sie die Familie nicht mehr durchbringen und sind automatisch der Gemeinde zur Last gefallen. Die Gemeinde verteilte dann die Kinder. Sehr oft waren es auch Verwandte, welche die Kinder bekommen haben.

 

Der moralische Druck nicht „armengenössig“ – finanziell von der Gemeinde abhängig – zu werden, war enorm. Das hat viele Eltern dazu gebracht, freiwillig einen Teil ihrer Kinder wegzugeben.

Wie viele Verdingkinder gab es in der Schweiz?

Das kann man nicht mehr genau sagen. Wir haben anhand der Volkszählung von 1930 Zahlen erhoben. Damals waren offiziell etwa 36 000 Kinder fremd platziert. Ich schätze aber, dass es etwa noch einmal so viele Kinder gewesen sein könnten, die von den Familien selber aus oben genannten Gründen vorwiegend an Bauern abgegeben wurden. Allein im Jahr 1930 also möglicherweise bis 70 000 Kinder.

Warum erlebten so viele Kinder traumatische Erlebnisse?

Man muss klar sehen, dass viele Pflegefamilien dachten, sie machen etwas Gutes. Sie nehmen diesen armen Familien ein Kind ab und dieses bekommt nun zu essen. Wenn ehemalige Verdingkinder später zu ihren Pflegeeltern gegangen sind und gesagt haben, "wir hatten es ganz schlecht", sind die aus allen Wolken gefallen. Ihnen war nicht klar, dass die Kinder auch noch etwas Nestwärme gebraucht hätten. Mir ist jedoch wichtig zu betonen, dass es auch Kinder gab, die es gut hatten.

Viele Kinder mussten unglaublich hart arbeiten, weshalb?

Etliche Landwirtschaftsbetriebe hätte ohne diese vielen Kinder, auch der eignen natürlich, gar nicht existieren können. Die Kinder hatten sie gratis, und die haben ab einem gewissen Alter wie ein erwachsener Dienstbote mitgearbeitet. Unter Umständen ist noch ein Pflegegeld bezahlt worden. Interessanterweise waren es kleine Höfe, die solche Kinder brauchten. Auf größeren Höfen wären die Kinder wahrscheinlich besser aufgehoben gewesen.

In der Sendung „Verdingkinder – der Kindheit beraubt“ wird berichtet, dass die Gemeinde eine Familie nach dem Tod der Mutter auflösen. Durften sie das überhaupt?

Bis 1900, 1920 hat man Familien noch aufgelöst, weil die Angst bestand, die Familie könnte der Gemeinde eine zu große Last werden. Das änderte sich erst, als das Zivilgesetzbuch von 1912 in Kraft trat und das Bundesgericht 1926 diese Art der Auflösung verboten hat.

 
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Die Behörden durften aber weiterhin aus anderen Gründen eine Familie auflösen. Es gab also bis ins 20. Jahrhundert solche Vorfälle. Im Vordergrund stand in erster Linie die Kostenfrage. Die ist ja auch heute noch ein Thema.

Was war Ihrer Meinung nach eines der Hauptprobleme in der ganzen Verdingkinderproblematik?

Die fehlende Zuneigung. Diese Kinder haben selten ein gutes Wort gehört. Ein großes Problem sehe ich auch darin, dass sie nicht darüber informiert wurden, was mit ihnen geschieht. Viele Wechsel verliefen deshalb so traumatisch. Man hat sie vielfach angelogen, ihnen gesagt, deine Mutter ist eine Dirne, geht auf den Strich, oder dein Vater ist ein Alkoholiker. Dies um zu verhindern, dass sie wieder zurück gehen wollten. Und nachdem ich neuere Bücher gelesen habe, glaube ich, dies passiert vereinzelt sogar heute noch. Die Behörden haben die Kinder überhaupt nicht einbezogen und informiert. Meist waren die Pflegeeltern wildfremde Leute; selbst wenn es Verwandte waren, kannten sie diese oft nicht.

Viele Verdingkinder erhielten Schläge, viele Mädchen wurden sexuell missbraucht.

Das Züchtigungsrecht war noch da. Natürlich waren da Grenzen, aber wer setzte die? Gewalt war weit verbreitet und ich glaube, sie ist es heute noch. Sie geschieht einfach im Versteckten, das gilt auch für sexuellen Missbrauch. Studien belegen, dass auch heute bis zu 40 000 Kinder jährlich missbraucht werden. Das sind erschreckende Zahlen. Früher war das natürlich nicht anders. Auch damals waren viele Kinder dieser Gefahr ausgesetzt, einige konnten sich wehren, andere nicht.

Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?

Laut den Aussagen von Fachleuten scheint es so, ja. Wir haben zwar die Erscheinung „Kinderarbeit“ nicht mehr. Wir hätten das wohl aber immer noch, wenn es uns wirtschaftlich nicht gut ginge, wir sehen das in anderen Ländern. Die Kinder haben mehr Rechte, werden heute als Individuen gesehen. Auch heute passieren in Familien Fehler, von denen wir in 20-30 Jahren wieder eine Studie machen können und uns fragen werden, "wie konnten wir nur"?

An welche Fehler denken Sie?

Professor und Soziologe Ulrich Mäder hat kürzlich eine Studie über Gewalt in Familien gemacht und ist auf etliche problematische Situationen gestossen. Es geschieht sehr viel Gewalt in den Familien. Auch ob die Nestwärme wirklich überall in den Familien spürbar ist, da bin ich mir nicht sicher. Und genau das bemängeln die ehemaligen Verdingkinder als eines der größten Probleme von damals.

Noch ein Wort zu den Kirchen. Haben die verschiedenen Kirchen sich für die Verdingkinder eingesetzt?

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Erstaunlicherweise hat sich die Kirche dieser Problematik nicht gestellt. Man sieht nirgends, dass sich Kirchen für die Kinder eingesetzt oder sich deren angenommen hätten. Häufig waren die Pfarrer und Lehrer Aufsichtspersonen, wussten also was lief.

 

Lehrer oder Pfarrer haben sich aber selten für ein Kind eingesetzt. Sie dachten eher, man müsse besonders streng mit diesen Kindern sein, gerade weil sie oft aus einem "schlechten" Milieu kamen. In katholischen Gebieten kam bei unehelichen Kindern noch das Stigma „Kind der Sünde“ dazu. Das war für die Kinder sicher keine Hilfe.

Einzig die Sonntagschule scheint mehrheitlich positiv erlebt worden zu sein.

Die Schule generell wurde meist positiv erlebt. Aber es gibt natürlich auch solche, welche die Schule ganz schlecht in Erinnerung haben, weil sie auch dort geschlagen und ausgegrenzt wurden. Einige wurden aber auch von den Lehrern gefördert, oder hatten einen guten Draht zum Pfarrer. Wir dürfen die Situation nicht verallgemeinern. Jedes Kind hat es anders erlebt. Die Schulferien waren meist die arbeitsintensivste Zeit auf einem Bauernhof, die Kinder gingen somit gerne wieder in die Schule, um sich etwas zu erholen oder andere Leute zu sehen. Bei der Sonntagschule war es ähnlich, die Kinder konnten von zuhause fort und hatten es meist gut.

Wie wirkten sich die negativen Erfahrungen auf die Lebensgestaltung der Verdingkinder aus?

Zum Teil wiederholten sich in den eigenen Familien die Geschehnisse von damals. Auch was die Gewalt betrifft. Die nun erwachsenen Verdingkinder kannten ja manchmal kein anderes Verhalten. Einige hatten ein Schlüsselerlebnis oder lernten einen verständnisvollen Partner kennen, der sie aus dieser Spirale heraus brachte. Es gab solche, die nicht fähig waren, Gefühle zu empfinden, nicht einmal gegenüber dem eigenen Partner oder der Partnerin. Überdurchschnittlich viele haben Selbstmord begangen.

Was können wir heute tun, um ehemaligen Verdingkindern zu helfen?

Die Rehabilitierung von Leuten, auch von solchen, die schon gestorben sind, das wäre für viele wichtig. Ein Thema für Betroffene ist auch, dass Behörden und Organisationen sich entschuldigen. Ehemalige Verdingkinder könnten so das Scheitern der Eltern oder das eigene Scheitern besser verarbeiten und spüren, es hat nicht nur an ihnen gelegen.

 
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