„Ist mir auf der Strasse eine Frau entgegengelaufen, wechselte ich die Seite“
Von Lukas Eggenberg
Josef Anderhalden kämpfte nicht nur mit dem Stigma „Verdingkind“, sondern auch noch mit der Tatsache, Sohn eines Mörders zu sein. Im Alter von 25 hat er sich unsterblich in eine junge Schönheit verliebt, doch wer wollte schon einen solchen Schwiegersohn?
„Natürlich der Vorderste!“ sagt Josef Anderhalden auf die Frage, wer er denn auf diesem Bild sei. Eine jungendliche Clique der 50er Jahre ist auf dem Bild zu sehen. Die jungen Männer liegen neben einer Naturstrasse auf dem Boden. Dahinter beginnt ein Waldstück. Praktisch alle tragen ein Hemd, einige sogar Krawatte und Mantel. Trotzdem liegen sie lässig da. Josef Anderhalden ist also derjenige, der zuvorderst liegt. Auf diesem Bild deutet nichts darauf hin, dass Josef Anderhalden als Verdingbub eine schwierige Kindheit hinter sich hat.
Verdingbub zu sein war das eine. Doch Josef Anderhalden nahm schon von Beginn weg ein weiteres Handikap mit auf den Lebensweg. 1932 wurde er unehelich geboren, sein Vater war ein verurteilter Mörder. Als „Mördersohn“ wurde er deshalb schon von Klein auf immer wieder betitelt. Seine Mutter wollte nichts mit ihm zu tun haben. Direkt nach der Geburt kam Anderhalden für drei Monate in ein Heim, danach zu einer älteren Frau, die noch zu anderen Verdingkindern schaute und so ihren Lebensunterhalt verdiente. Nach acht Jahren bei der älteren Frau kam Josef zu einem Bauern. Dieser war ein Kranzschwinger und schlug ihn häufig. Josef konnte vielfach nach den Schlägen kaum mehr gehen. Er wusste meist nicht weshalb er geschlagen wurde, auch nicht, weshalb ihn der Bauer jeden Sonntag ins Zimmer oder in den Schweinestall sperrte. Seine Situation wurde im Dorf mehr und mehr bekannt. Als dann noch ein Nachbar den Behörden verlauten ließ, der junge Bursche werde umgebracht, wenn niemand handeln würde, kam Josef von dort weg. Er kam zu einem anderen Bauern und von dort in verschiedene Heime.
„Ich war immer extrem scheu“ sagt Josef Anderhalden von sich. Das sieht man dem Mann auf dem Bild jedoch nicht an. „Wenn mir auf dem Trottoir eine junge Frau entgegengekommen ist, habe ich gleich die Strassenseite gewechselt“ sagt er und grinst etwas verlegen. Trotzdem hat Anderhalden sich im Alter von 25 Jahren unsterblich verliebt, wie er sagt. Noch heute, über 50 Jahre später, denke er ab und zu an sie. Doch wer wollte damals einen ehemaligen Verdingbuben als Schwiegersohn? Noch dazu den Sohn eines Mörders? Nein, das sei aussichtslos gewesen, an diese Frau heranzukommen.
„Nestwärme, das habe ich nie gekriegt“, sagt Josef. Selbst für die Katzen sei besser gesorgt worden als für ihn. Oft habe er das Bett genässt, kein Selbstvertrauen entwickeln können. Anderhalden holt ein anderes Bild hervor. Auch dort ist er vorne im Bild abgelichtet. Es zeigt ihn und einen anderen Mann in einer Werkstatt. Heizungsmonteur ist er trotz schulischer Schwierigkeiten geworden. Und nicht nur das. Josef Anderhalden holt ein weiteres Bild hervor. Nein, nicht ein Bild, vier sind es, in einen Holzrahmen gefasst. Es zeigt ein Haus aus verschiedenen Perspektiven. Sein Haus, sei dies, er habe es selber umgebaut, die Heizung montiert und alles renoviert. Heute kann er vom Zins, das es abwirft und von der Rente, die er bekommt, leben.
In den letzten Jahren hat Josef alle Dokumente, die er über sich und seinen Vater finden konnte gesammelt, sich mit seiner Geschichte auseinandergesetzt. Sein Vater war geistig nicht zurechnungsfähig, als er den Mord beging. Das ist in einem Dokument festgehalten. Eine Beziehung zu seinem Vater konnte er nicht aufbauen. Beziehungen zu gestalten, falle ihm schwer, sagt er. Eine gewisse Scheu und Unsicherheit, sei ihm bis heute geblieben.